Kreuzberger Chronik
Dez. 2011/Jan. 2012 - Ausgabe 133

Legenden der 60er

Sonnenstern und Hundertwasser


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von Alf Trenk

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Alf Trenk
Foto: Archiv AGB











Friedrich Schröder-Sonnenstern dreht abrupt den Kopf zur Seite, als der Suppenlöffel seinem Mund zu nahe kommt. Der Fütterungsversuch scheitert an Friedrichs Halsstarrigkeit, es gefällt ihm, den Kranken zu spielen. Zufällig anwesend, halte ich diesen Moment mit der Rollei fest. Als ich später einen gewonnenen Mietprozess erwähne, ernennt er mich ad hoc zum Vermittler bei seinem Streit mit der Hausverwaltung. Ein meritenloses Amt, denn alles, was wir besprechen und planen, wird noch am gleichen Tage aus seinem Gedächtnis verschwinden.

Friedrich Schröder-Sonnenstern! Welch ein Lebenslauf: Geboren 1892 als Friedrich Emil Schröder in einem Kaff bei Tilsit, zweites von dreizehn Kindern, Mutter nervenkrank, Vater gewalttätig und versoffen. Wegen Aufsässigkeit in der Schule in Zwangserziehung genommen, abgebrochene Gärtnerlehre, nochmals Erziehungsanstalt, Meiereiarbeiter, erste Einweisung in eine so genannte »Irrenanstalt«, als Geisteskranker vom Kriegsdienst freigestellt, abermals Verbringung in eine psychiatrische Anstalt, schließlich ohne medizinisches Gutachten für schizophren befunden und entmündigt.

Nach dem 1. Weltkrieg geht Friedrich nach Berlin. Hier steht, inmitten des sozialen Elends, der Okkultismus in voller Blüte. Er gründet eine Sekte, bewegt die Mitglieder zum Spendensammeln und verteilt als «Schrippenfürst» Brötchen an Kinder und Arme. Die Nazizeit überlebt er im Arbeitslager, flieht nach Berlin und beginnt 1949 zu zeichnen. Bellmer sieht seine Bilder, knüpft Kontakte zu den Surrealisten, die den Namenlosen an ihren Ausstellungen beteiligen. Dubuffet, Matisse, Dürrenmatt, Henry Miller und George Pompidou kaufen seine Bilder. Hundertwasser begleitet ihn in den »Leierkasten«, wo – unvergesslicher Anblick – Sonnenstern ihn auf seine Schultern hebt.

Die Aufträge mehren sich und überfordern allmählich seine Kraft. Er arbeitet nur mehr die wichtigsten Details aus, lässt die übrigen Flächen von Hilfskräften ausmalen. Unter ihnen sind viele, die seine Motive kopieren und lukrative Geschäfte machen. Der Kunstmarkt aber verliert allmählich das Interesse. Nach dem Tod seiner Lebensgefährtin und einem letzten Klinikaufenthalt in den Bonnhöfer Heilstätten ist er mit der Schaffenskraft am Ende. Die Wohnung in der Körnerstraße muss er räumen. Fröstelnd tritt er aus dem Haus, mit Schiebermütze und hochgeklapptem Mantelkragen, drückt einige Hände, geht dann hinüber Zur Post und bestellt einen Klaren. Das Foto hier zeigt diese Szene. Es war das letzte, das ich von ihm machte. •


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